Borderline – Wir konnten alle nichts dafür
Wolf Jacobs
Es war einer dieser Tage an denen ich mich fragte, ob sie denn nun endlich aus dem Fenster springen würde. Immer wenn ich mich bei diesem Gedanken ertappte, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Warum? Es wäre eine Erlösung gewesen. Für alle – für mich, die Kinder und vor allem für sie.
Damals ahnte ich nicht, wie tragisch ihre Situation in Wirklichkeit war. Ich verspürte nur Verzweiflung, Wut, Aggression und immer noch Liebe. Ich spürte nach wie vor eine unendliche Liebe. Auch bei mir würde sich erst später herausstellen, wie schicksalhaft mein Wesen ist.
Unterwegs hatte ich Zeit zu denken. Zuhause angekommen packte ich die Einkäufe aus und wickelte unseren Sohn. Mein Gott, war ich kaputt.
Kaum geschlafen, die halbe Nacht den Kleinen getragen,
heute gearbeitet.
Hoffentlich schreit er nicht wieder die halbe Nacht.
Gedankengänge – wirr aneinandergereiht.
Es beginnt erneut. Sie fängt lauernd in ihrem Unterton an. Während sie spricht, lauert sie auf ein Wort von mir. Sie wartet auf einen Grund. Das Wort ist egal. Es ist egal, was ich sage. Es reicht, dass ich etwas sage. Es reicht zu sein. Da zu sein. Das ist alles, was sie braucht. Das ist alles, was sie braucht, um auszurasten. Mittlerweile weiß ich nicht mehr, worum es ging. Einmal ging es um Meg Ryan. Ich hatte gesagt, dass ich gerne verkitschte Filme mit Meg Ryan gucke. Das hat gereicht. Es ging nur um einen Namen – um einen Namen von einer unerreichbaren Frau.
Oft erinnere ich mich an genau den einen Gewaltausbruch.
Es war schon wieder so weit. Zum Glück hatte sie sich immer so weit im Griff, dass die Kinder schon im Bett waren, wenn es los ging. Auch diesmal bekam ich die volle Dosis. Als ich wieder aus der Wohnung flüchten wollte, blockierte sie die Tür. Sie blockierte auch mich mit plötzlichen Liebesschwüren, um wenig später wieder gewalttätig zu werden. Zuerst die Liebeschwüre, dann die Gewalt. Ihr Gefühlsleben wurde mir gewalttätig übergestülpt.
Dieses Mal endete es mit einer fliegenden Colaflasche und einer Platzwunde am Auge. Ich blutete wie ein abgestochenes Schwein. Zuerst ging es zur Polizeiwache. Dort hatte man mir vorher nie geglaubt. Dort hatte man mich ausgelacht und wegeschickt – mehrfach. Nun musste man mir glauben. Entsetzt wurde ich ins Krankenhaus geschickt. Als hätten sie mein Auftauchen auf der Wache nicht selbst durch Tatenlosigkeit und Lachen verursacht.
Nach dem Krankenhausbesuch wurde endlich eine Anzeige aufgenommen. Sinnlos. Das Verfahren wurde sehr schnell wieder eingestellt. So geht man mit schwerer Körperverletzung bei häuslicher Gewalt mit Männern um, wenn die Gewalt von einer Frau ausgeht.
Es war grausam. Ich war Gewalt aus der eigenen Familie in meiner Kindheit gewohnt. Es schien niemals enden zu wollen – aus der Kindheit hinein in die Welt meines Erwachsenseins. Daher empfand ich Gewalt niemals als besonders schlimm. Gewalt war Normalität. Erst nachdem es blutig wurde, erst nachdem mich die Polizei ausgelacht, erst nachdem mich die Staatsanwaltschaft im Stich gelassen hat und das Familiengericht mich nicht ernst genommen hat, erst dann wurde ich wach. Erst dann wurde mir klar, was hier geschah.
Hier geschah Schlimmes. Etwas, das nicht sein durfte. Weder für mich, noch für die Kinder und auch nicht für sie.
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